Von Dualität zu Polarität – Yin und Yang im Business

Im Jahr 2001 hat der amerikanische Regisseur Ron Howard den wunderbaren Film „A Beautiful Mind“ gedreht, der das Leben und Wirken des Mathematikers John Nash porträtiert. Der Film zeigt Nashs Leben und seine Arbeiten im Bereich der Spieltheorie, für die ihm im Jahr 1994 der Nobelpreis für Wirtschaft verliehen wurde. Aber auch seine psychischen Probleme durch Schizophrenie werden dargestellt.

Der Film und das Leben von John Nash sind interessant: Es zeigt sich ein wichtiger Wesenszug von John Nash in seiner Tendenz zum dualistischen Denken. Nashs Genialität wird oft seiner Fähigkeit zugeschrieben, Muster und Zusammenhänge zu sehen, die andere nicht sehen konnten. Jedoch führt genau dieses außergewöhnliche Talent dazu, dass er in einen Strudel von Wahnvorstellungen und Paranoia gerät.

Dualität und Polarität

Es sollte an dieser Stelle eine wichtige Unterscheidung gemacht werden, die uns im Folgenden begleiten wird: Nämlich zwischen Dualität und Polarität. Während die Dualität zwei Größen bezeichnet, die sich antagonistisch gegenüberstehen (und sich damit ausschließen), vereint die Polarität die beiden Größen in einem komplementären Verhältnis.

Die Philosophie beschäftigt sich schon seit Jahrhunderten mit diesem Unterschied. So hat im deutschen Idealismus der Begriff der Polarität bei Schelling und Hegel besondere Bedeutung. Hegel spricht z.B. „von einem Unterschiede, in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind.“

In der chinesischen Philosophie, sowohl im Daoismus, als auch im Konfuzianismus, ist die Polarität ebenfalls ein zentrales Konzept. Sie wird dort als Taiji bezeichnet – oft fälschlicherweise als Kurzform für die Kampfkunst Tàijíquán (Schattenboxen) verwendet. Taiji kann wohl am besten mit „Das sehr große Äußere“ übersetzt werden. Es wird dort als das höchste Prinzip des Kosmos gesehen und vereint sich ergänzende Gegensätze (Yin und Yang). Yin („das Dunkle“) und Yang („das Helle“) vereinen sich am Gipfel, eben am Taiji. Taiji ist also die gemeinsame Kraft (der Berg), aus der die scheinbaren Gegensätze (Sonne und Schatten) hervorgehen.

Yin Yang Icon

Polarität ist Bewegung, Dualität ist Stillstand

Somit werden im Verständnis von Polarität zwar die beiden Pole sichtbar, sind aber Ausgangspunkt für eine Bewegung, um Ausgleich und Harmonie zu schaffen. Das Leben findet im Dazwischen statt und strömt zwischen den Polen. Wie müssen uns nicht entscheiden zwischen „Hell“ und „Dunkel“, sondern können beides haben. Die Bewegung und Strömung dazwischen ist das, was Polarität ausmacht. Dualität dagegen manifestiert die Gegensätze und zwingt uns, sich entweder für das eine oder das andere zu entscheiden. Die gleichzeitige Existenz wird ausgeschlossen.

Mein Kollege Michael Pohl hat diesen wichtigen Unterschied in seinem letzten Artikel beschrieben. Der dort vorgestellte Denkansatz des Tetralemma folgt der Idee der Polarität. Das Tetralemma ermöglicht den Ausgleich zwischen den Polen und fokussiert auf den Raum dazwischen. Durch die Auflösung des Dualismus entstehen neue Lösungen.

Dualität und das Gefangenen-Dilemma

Kommen wir noch einmal zu John Nash („A Beautiful Mind“) zurück. In dem Film geht es nicht nur um Nashs Kampf mit der Schizophrenie, sondern auch um seine bahnbrechenden Beiträge zur Spieltheorie. Das nach ihm benannte Nash-Gleichgewicht (NGG) steht in einem interessanten Zusammenhang mit den bereits ausgeführten Gedanken zu Dualität und Polarität.

Das NGG beschreibt nicht-kooperative Spiele, in denen es keine Kommunikation zwischen den beiden Spielern gibt. Das NGG ist ein Zustand, in dem es sich für keinen der beiden Spieler lohnt, ihre Entscheidung einseitig zu ändern – weil sie sich dann verschlechtern würden.

Ein bekanntes Beispiel ist das Gefangenen-Dilemma. Im Gefangenen-Dilemma kann eine gute Lösung für beide nur entstehen, wenn eine individuell suboptimale Entscheidung getroffen wird. Man könnte auch sagen, dass hier auf die idealistische Haltung des anderen Spielers vertraut werden muss, damit das globale Optimum entsteht.

Dies ist allerdings kein stabiler Zustand. Es besteht eine große Verlockung, einseitig von diesem Zustand abzurücken, was aber den anderen Spieler ebenfalls zu einer Änderung seiner Strategie bringt. Am Ende stehen dann beide schlechter da als im globalen Optimum.

Warum treffen wir dann schlechte Entscheidungen?

Die kooperative Strategie ist also nur dann lohnend, wenn jeder vertraut, dass auch der andere Spieler kooperiert. Dies lässt sich auf viele Entscheidungen im privaten und geschäftlichen Leben übertragen.

Nehmen wir an, zwei Unternehmen befinden sich im Wettbewerb im selben Marktsegment und haben die Optionen, hohe oder niedrige Preise zu setzen. Wenn beide Unternehmen kooperieren und einer stabilen Preisstrategie folgen, dann erzielen beide einen moderaten Ertrag im Markt.

Wenn jedoch ein Unternehmen nicht kooperiert und einseitig aggressiv die Preise reduziert, dann mag es einen höheren Marktanteil und einen höheren Ertrag auf Kosten des Wettbewerbers erzielen. Wenn jedoch dann auch das andere Unternehmen in den Preiskampf einsteigt (also niedrige Preise setzt), dann führt das zur Abwärtsspirale für beide Unternehmen. Beide verdienen weniger als in der kooperativen Strategie. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Dualität überwinden: das Harvard-Konzept „Getting To Yes“

Ein ebenfalls interessanter Ansatz kommt aus einer Forschungsrichtung, die sich mit Verhandlungsstrategien beschäftigt. Im Jahr 1979 hat die Harvard University das sogenannte Harvard Programm gestartet. Die Mission des Programms ist es, Theorie und Praxis von Konfliktlösung und Verhandlung zu verbessern. Dafür arbeitet es mit realen Konfliktinterventionen und entwickelt und verbreitet neue Ansätze.

Daraus entstand bereits 1981 das einflussreiche Buch „Getting to Yes: Negotiating Agreement Without Giving In“ (in Deutsch: „Das Harvard-Konzept: Die unschlagbare Methode für beste Verhandlungsergebnisse“). Es wurde schon 15 Millionen Mal verkauft und in 35 Sprachen übersetzt. Auch hier geht es um die Überwindung von Dualität und dem Streben nach einer globalen Position, die scheinbar widersprüchliche Interessen vereint.

Die Kunst besteht darin, den Lösungsraum so zu erweitern, dass für beide Seiten vorteilhafte Lösungen entstehen. Das nach dem Projekt benannte Harvard-Konzept besteht aus vier einfachen Grundregeln für Verhandlungen:

  1. Trenne die Menschen vom Problem.

  2. Fokussiere auf Interessen, nicht auf Positionen.

  3. Entwickle Optionen zum gegenseitigen Vorteil.

  4. Bestehe auf der Anwendung objektiver Kriterien.

Besonders die zweite und dritte Grundregel basiert auf der Idee der integrativen Verhandlung und damit auf der Überwindung der Dualität. In der dualen (nicht-integrativen) Verhandlung kann nur eine Seite gewinnen und damit zwangsläufig die andere Seite verlieren. Indem aber auf die echten Interessen (und nicht die geäußerten und taktischen Positionen) fokussiert wird, können eben auch Optionen zum gegenseitigen Vorteil (Win-Win-Lösungen) entwickelt werden. Denn ein fauler Kompromiss ist noch lange keine gute Lösung.

Mit den Dialogischen Prinzipien der Dualität entkommen

Interessant sind auch die Beobachtungen, die die Autoren zu typischen Kommunikationsproblemen gemacht haben:

  1. Nicht direkt und klar mit der anderen Partei sprechen

  2. der anderen Partei nicht aktiv zuhören, sondern nur zuhören, um die Aussagen der anderen Partei zu widerlegen, und

  3. das Gesagte der anderen Partei missverstehen oder falsch interpretieren.

Hier finden sich einige dialogische Konzepte, die wir auch in unseren Führungstrainings ansprechen. Wie schafft man es, wirklich zuzuhören, um echte und menschliche Verbindungen aufzubauen? Wie findet man heraus, was die andere Seite wirklich, wirklich will?

Dualität vs Polarität in der Führung

Übrigens ergeben sich durch die Überwindung der Dualität auch im Coaching und in der Mediation ganz spannende Ansätze, die wir in unserer Arbeit mit Führungskräften trainieren. So folgt z.B. das GROW-Konzept, einem Führungswerkzeug aus der coachenden Führung, ganz ähnlichen Prinzipen wie das Harvard-Konzept:

  • G=Goal: Was ist das Ziel? Was sind die wahren Interessen?

  • R=Reality: Wo stehe ich? Wie ist die Situation?

  • O=Options: Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Wie kann ich meine Stärken und Ressourcen nutzen?

  • W=Way: Wie sieht die Lösung aus? Welches sind die nächsten Schritte?

Auch hier besteht die Kunst im echten und aktiven Zuhören (oder besser Hinhören), um die wahren Bedürfnisse zu erkennen und entsprechende Lösungen zu entwickeln.

Stichwort Kommunikation

Damit sind wir bei unserem kleinen Rundgang bei der Kommunikation gelandet – wo auch sonst? Sie kennen ja sicher die drei wichtigsten Führungskompetenzen, oder? (Auflösung: 1. Kommunikation, 2. Kommunikation, 3. Kommunikation).

Wenn wir über Kommunikation sprechen, darf besonders im deutschsprachigen Raum ein Name nicht fehlen: Friedemann Schulz von Thun. Als Kommunikationspsychologe hat er ganz hervorragende Tools für die Kommunikation entwickelt. Besonders zu empfehlen ist sein Buch „Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte“, übrigens sehr managerfreundlich mit vielen Bildern und relativ wenig Text.

Darin finden Sie ein Modell, das sehr stark an die Überwindung der Dualität und den Übergang zur Polarität erinnert: das Werte-Quadrat. Es bedient sich Grundzügen der Dialektik und versucht, die Einteilung von menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen in „gut“ vs. „schlecht“ zu überwinden. Er stellt fest, dass „(…) Werte nur dann eine konstruktive Wirkung entfalten, wenn sie in ausgehaltener Spannung zu einem Gegenwert gelebt und verwirklicht werden (…)“.

Schulz von Thun spricht von „komplementären Schwestertugenden“. Erst durch die Polarität und das „Sowohl-als-auch“ kann die Übertreibung eines Pols vermieden wird. Aus Authentizität (Ehrlichkeit, Offenheit) wird ganz schnell naive Unverblümtheit oder Übergriffigkeit, wenn Diplomatie oder Fingerspitzengefühl fehlen. Umgekehrt wird aus Diplomatie dann manipulative Fassadenhaftigkeit, wenn zu wenig Ehrlichkeit und Authentizität vorhanden ist.

Dualität und Polarität: Zusammenfassung und Ausblick

Was lernen wir nun daraus? Unser erstes von 17 New Leadership Prinzipien („Integratives Denken“) ist an vielen Stellen, Domänen und Jahrhunderten zu finden.

Scheinbare Gegensätze lösen sich auf, wenn wir eine höhere, gesamthafte Perspektive einnehmen. Die Kunst besteht also darin, nach der Integration scheinbarer Gegensätze zu suchen. Die Gegensätze verschwinden dadurch nicht, sie verbinden sich nur zu einem höheren Wert.

Wir haben begonnen mit Nashs schizophrenen Störungen, die aus einer Trennung der Gegensätze entstehen. Innere Zerrissenheit ergibt sich aus der Ablehnung unserer inneren Konflikte. Wir dürfen auch hier Polarität („Das innere Team“) zulassen und mit uns selbst Frieden finden. Wir selbst sind ein Widerspruch!

Ein weiterer Punkt ist die Unterscheidung zwischen Dualität und Polarität. In der westlichen und der östlichen Philosophie ist das für ein gelingendes Leben wichtig. Der Übergang zur Polarität führt zu Bewegung – und zum Ausgleich der Gegensätze.

Etwas „irdischer“ ist dann die Spieltheorie, die aber auch klar aufzeigt, dass bessere Lösungen nur dann entstehen, wenn wir unsere Füße aus dem Schlamm ziehen und eine höhere Perspektive einnehmen. Vertrauen und Kooperation sind hier wichtige Grundwerte.

Das Harvard-Konzept zeigt auf, dass gute Verhandlungslösungen nur aus integrativen Ansätzen entstehen können, indem beiderseitige Vorteile im Mittelpunkt stehen und auch der Lösungsraum zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wird.

Schlüssel hierbei ist eine Kommunikation, die auf dialogischen Grundsätzen basiert, so dass eine Tugend nur einen echten Wert darstellt, wenn sie mit einem Gegenwert geschickt ausbalanciert ist.

Zuletzt biete ich Ihnen eine kleine Übung an. Überlegen Sie, wo Ihnen in Ihrem Alltag zuletzt eine Dualität begegnet ist (Entweder-Oder) und stellen Sie eine Hypothese auf: es handelt sich um eine Polarität. Dann stellen Sie sich einfach folgende Frage:

„Unter welchen Bedingungen sind die momentan unvereinbaren Gegensätzen keine Gegensätze mehr?“

(Prof. Frank Widmayer)

Mehr lesen:

„17 Prinzipien für New Leadership“

„Dualismus und Ambidextrie in Organisationen“ (Michael Pohl)

„Getting to Yes: Negotiating Agreement Without Giving In“ (Roger Fisher & William Ury, 1981)

„Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte“ (Friedemann Schulz von Thun, 2003)

„Gefangenen-Dilemma“ auf Wikipedia

New Leadership Training

Prinzipien, Kompetenzen und Werkzeuge für moderne Führung.

Dauer: 12 Tage
Präsenz / Online