Warum Ihr Unternehmen geistiges Kapital verschwendet

Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Haus für sich und die Familie. Würden Sie akzeptieren, dass Handwerker sinnlos Material herumtragen? Dass notwendige Werkzeuge fehlen und viel Zeit für Handarbeit und ‚Work-Arounds‘ verschwendet wird? Dass Rohre, Kabel oder Böden verlegt, dann wieder herausgerissen und neue verlegt werden? Dass Ihr Haus am Ende 30% mehr kostet und Sie weitere Finanzierung organisieren müssen? Dass Sie 1 Jahr später als geplant einziehen können?

Unternehmen tun das täglich.

Wenn Manager über Digitalisierung nachdenken, dann stehen häufig Effizienz im Vordergrund: Prozesse weiter automatisieren, Zeit und Kosten reduzieren, Qualität erhöhen. Innerhalb von Prozessen werden Daten gesammelt, aggregiert und analysiert, Entscheidungen vorbereitet und Änderungen am Prozess vorgenommen.

Alles folgt einem Prinzip, welches Taiichi Ohno (1912-1990) in die Produktionswelt eingeführt hat: stetige Verbesserungen im Prozess erreichen, Qualität erhöhen und Verschwendung eliminieren. Ohno hat Kaizen als Paradigma bei Toyota etabliert, heute ist das Denken in Effizienz und Qualität der Quasi-Standard prozessgetriebener Unternehmen – also praktisch aller Unternehmen.

Im Fokus steht dabei, Verschwendung zu reduzieren, und Ohno identifizierte sieben Felder der Verschwendung:

Korrekturen (Correction)
Überproduktion (Overproduction)
Bewegungen (Motion)
Materialbewegungen (Material movement)
Wartezeiten (Waiting)
Bestände (Inventory)
Verarbeitung (Processing)

Produktionsunternehmen orientieren sich bis heute an diesen Feldern und unternehmen alles, um Verschwendung zu vermeiden, dadurch Kosten zu reduzieren und die Qualität zu erhöhen. Durch Digitalisierung, Industrial Internet of Things und Analytics stehen heute mehr denn je Daten – und Werkzeuge für deren Analyse – zur Verfügung. Digitalisierung als Effizienztreiber zu interpretieren folgt also der gleichen Logik wie die Einführung von Lean Production oder TQM generell. Eliminieren von Verschwendung wirkt sich direkt auf den Profit eines Unternehmens aus, ein Fokus darauf macht also Sinn.

Verschwendung jenseits der Produktion

Die Kernprozesse von Fertigungsunternehmen liefern heute schon unzählige Datenpunkte, die für Optimierung eingesetzt werden, dazu zählen Logistik, Lager, Produktionen bis zum Customer Service. Aber wie sieht es jenseits davon aus?

Eines der Prinzipien, auf das Jeff Sutherland in seinen Forschungen zu SCRUM verweist, ist ebenfalls die Reduzierung von Verschwendung. Historisch wurde Software in klassischer Wasserfall-Methode entwickelt: Anforderungen definieren, Entwickeln, Testen, Ausliefern; das ganze wurde mit überbordendem Projektmanagement geplant und begleitet. Je komplexer Software und Projekte wurden, umso häufiger entsprach das fertige Produkt aber nicht den ursprünglichen Anforderungen, oder diese hatten sich während der Entwicklung dynamisch verändert.

Im Entwickungsprozess wurden also Ressourcen verschwendet: geistige Leistung, Zeit, Geld. Entwickler haben an Ende sinnlose Arbeit verrichtet. Scrum verändert das, indem es auf kurze, iterative Sprints setzt, auf hohe Autonomie der Teams sowie maximale Transparenz. Scrum ist eine moderne Methode, um Projekte kundenzentriert umzusetzen und Verschwendung zu vermeiden. Sie hat sich mittlerweile auch außerhalb von Software-Projekten durchgesetzt.

Obwohl Methoden wie Lean oder SCRUM heute überall bekannt sind und angewendet werden, so findet man in Organisationen heute trotzdem eine erschreckend hohe Verschwendung. Geistiges Kapital wird sinnlos vergeudet. Zwei Beispiele:

A. Produktionsunternehmen

Ein Manager hat den Auftrag, nach Einsparpotentialen in einem Geschäftsbereich zu suchen und Vorschläge zu machen, wie das Potential ausgeschöpft werden kann. Er bildet ein interdisziplinäres Team und evaluiert konkrete Ideen. Das Team kommt gut voran, etliche Vorschläge liegen nach ein paar Wochen auf dem Tisch. Jetzt beginnt der Wahnsinn: die Ideen und Vorschläge müssen höheren Hierarchie-Ebenen vorgelegt werden, damit dort entschieden werden kann.

Es dauert Wochen, bis von den Managern die Rückmeldung kommt, das weitere Daten benötigt werden. Niemand entscheidet, das Team ist jetzt damit beschäftigt, Ideen mit immer mehr Powerpoint-Folien zu präsentieren. Der Teamleiter wird zu Board-Meetings eingeladen, um dort zu präsentieren – aber man sagt ihm nicht, was genau das Board wissen möchte. Also setzt er mit seinem Team weitere tagelange Arbeit ein, um auf Verdacht und im schlimmsten Fall die ‚falsche‘ Informationen aufzubereiten.

Die beteiligten Team-Mitglieder sind intelligente Ingenieure und Kaufleute, aber sie sind handlungsunfähig. Sie können nichts beitragen, um konkret Kosten einzusparen, sondern verschwenden ihre Energie auf unzählige Seiten Powerpoint.

B. Finanzdienstleister

Im zweiten Beispiel berichtet ein junger Bank-Manager von seiner Arbeit: er muss Marktdaten zusammentragen, auswerten, aufbereiten und dann Berichte für die Händler weltweit erstellen. Also vereinfacht, Daten von links nach rechts bewegen. Auf die Frage, ob man diesen Prozess nicht automatisieren kann (Robotic Process Automation, Analytics) sagt er: „Theroetisch ja, aber praktisch unmöglich.“

Er bräuchte verschiedene Mitglieder in einem temporären Team: den Händler als interne Kunden, IT Spezialisten, Experten für Data, Analytics, Governance, einen internen Coach etc.), und er kennt diese Kollegen sogar persönlich. Aber alle sind unterschiedlichen Abteilungen zugeordnet, berichten an unterschiedliche Vorgesetzte. Daraus ein interdisziplinäres Team zu bilden, welches 2-4 Wochen Zeit investieren darf, ist nicht möglich – die hierarchischen Strukturen stehen dem im Weg.

Beide exemplarischen Fälle zeigen ein Paradox:

Es könnte Verschwendung von Zeit oder Geld vermieden und die Qualität erhöht werden – aber traditionelle Strukturen und Bürokratie verhindern genau das. Es werden also nicht nur Effizienzgewinne nicht realisiert (Opportunitätskosten), sondern sogar geistiges Kapital vergeudet. Alle genannten Mitarbeiter:innen sind hervorragend ausgebildet, haben Masterabschlüsse in der Tasche, viel Erfahrung und Ideen und (noch) hohe Eigeninitiative und Verantwortung.

Aber sie werden gezwungen, ihre Ressourcen zu verschwenden. Anstatt Innovationen zu entwickeln und nachhaltigen Wert für ihr Unternehmen zu schaffen, sind sie zu Hierarchie-Ritualen und zu sinnloser Arbeit verdammt. Das Paradoxe daran: beide Seiten verlieren. Wie lange können sich Unternehmen das noch leisten?

Während also in manchen Unternehmensbereichen auf die Nachkomma-Stelle optimiert wird, verschwendet man an anderer Stelle Zeit, Geld, Energie, Ideen, Initiative und am Ende Loyalität. Die Menschen sind frustriert, weil sie nicht wirksam sein können. Mag es daran liegen, dass dieses Verhalten in traditionellen Unternehmenskulturen ’normal‘ erscheint? Oder dass es für geistige Arbeit keine messbaren Datenpunkte gibt?

Organisationen können es sich nicht mehr leisten, geistiges Kapital zu verschwenden. Zu groß ist die Gefahr, dass neue, unbekannte Wettbewerber mit innovativen Geschäftsmodellen, Plattformen, digitalen Services nicht nur Marktanteile, sondern ganze Märkte übernehmen. In beiden oben genannten Industrien gibt es diese Herausforderer bereits. Außerdem werden Mitarbeiter:innen sinnlose Arbeit immer weniger hinnehmen und sich stattdessen nach neuen Jobs umschauen.

Neue Prinzipien für Führung und Zusammenarbeit

Jetzt wäre der Zeitpunkt für Unternehmen, neue Applikationen einzuführen und die Arbeitsleistung und den Wertbeitrag von Mitarbeitenden noch tiefer zu analysieren (Stichword HR oder Workforce Analytics). Mehr Daten zu sammeln und auszuwerten rund zum Performance, Zufriedenheit, Kommunikation und so weiter.

Oder Sie etablieren neue Prinzipien: Mitarbeitende wissen sehr genau, was sie an Leistung und Zufriedenheit hindert. Wo es am Sinn fehlt. Wo ihre Wirksamkeit eingeschränkt wird. Führung könnte das Bewusstsein darauf richten und gemeinsam mit Teams Verschwendung vermeiden:

Strukturen verändern – welche (Mikro & Makro) Strukturen verhindern Selbstwirksamkeit, Sinn und Innovation?

Transparenz schaffen – stehen allen Mitarbeitenden jederzeit notwendige Informationen zur Verfügung, oder wird Information als Herrschaftswissen verwendet?

Regeln abschaffen – viel Verhalten in Organisationen ist durch Regeln bestimmt; welche davon sind notwendig, welche überflüssig, welche sorgen für Verschwendung? (siehe ‚Kill a stupid rule‘ von Lisa Bodell, gut beschrieben von HR Pioneers)

In unserer Arbeit rund um New Leadership haben wir Prinzipien, Kompetenzen und Methoden erforscht, die Führung zukünftig etablieren muss. Hier sind ein paar dieser Prinzipien:

Statt ‚Führungskräfte sind Entscheider‘
hin zu ‚Führung schafft die Kultur und Strukturen für Entscheidungsfindung (von Teams)‘

Statt ‚Uniformität fördert schnelle Lösungen‘
hin zu ‚Diversität fördert nachhaltige Lösungen‘

Statt ‚Führung durch Strategie, Hierarchie und Pläne‘
hin zu ‚Führung durch Purpose, Vernetzung und Agilität‘

Statt ‚Abteilungen sind verantwortlich für Innovation‘
hin zu ‚Intrapreneurship in der Kultur verankern‘

Der Anfang von Veränderung ist, wenn Dinge ins Bewusstsein kommen. Machen Sie sich also bewusst, dass Ihr Unternehmen täglich wertvolle Ressourcen verschwendet. Es geht längst nicht mehr um Rohstoffe oder schlechte Qualität, sondern um das wertvollste, was Sie besitzen: geistiges Kapital.