Die paradoxe Theorie der Veränderung

Jeder Organismus und jedes System verändert sich. Permanent. Aber Systeme haben Fähigkeiten entwickelt, um trotz ständiger Veränderungsimpulse stabil zu bleiben. Man könnte sagen, dass Stabilität trotz Komplexität und Unsicherheit die Eigenschaft wandlungsfähiger Systeme ist.

Stabilität als Phänomen wandlungsfähiger Systeme

Wenn von Veränderung, Transformation oder Change gesprochen wird, dann denken Sie sicher an Unternehmen: digitale Transformation. Disruption. Nichts bleibt, wie es war. Es geht nicht mehr darum, eine Veränderung gut zu bewältigen oder sie gar zu managen. Es geht darum, die Natur von Veränderung zu begreifen, also zu verstehen, wie eine Organisation wandlungsfähig wird und trotzdem – oder gerade deshalb – stabil bleibt.

Immer schon, und lange bevor Unternehmen sich überhaupt gebildet hatten, war Veränderung eine Domäne der Natur und der Menschen. Alles fließt – panta rhei. Damit hat Heraklit nicht nur einen zitierfähigen Spruch formuliert, sondern eine Tatsache beschrieben – um das zu begreifen reicht ein täglich neuer Blick auf einen Baum.

Verharren vs „operative Hektik“

Wenn sich also alles immer verändert, dann müssten wir doch eine tief in uns angelegte Kompetenz zur Veränderung besitzen? Ein Wissen darüber – eine Weisheit gar – in deren Licht wir Veränderung nicht als Gefahr begreifen, sondern als etwas Natürliches. Nun, Sie wissen, dass das nicht so ist. Veränderung kann Angst machen und lähmen, wir reagieren unbewusst mit Widerstand durch Verharrung – Stagnation tritt ein.

Eine andere denkbare Reaktion ist es, in Aktionismus zu verfallen – also mit aller Kraft neue Ziele anzustreben, ohne sich der Veränderung selbst zuzuwenden. Klaus Kobjoll, Hotelier und erfolgreicher Kulturwandler, hat das einst als „operative Hektik bei geistiger Windstille“ beschrieben.

Bei einem Veränderungsimpuls sind also zwei Phänomene beobachtbar: Aktionismus und Verharren. Beides sind Seiten der gleichen Medaille, zwei Formen des Widerstands. Arnold R. Beisser hat einen dritten Weg erforscht.

Beisser war Professor für Psychiatrie und Schüler von Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie. Als Kind plante er sein Leben: Tennisprofi, Doktortitel, und mit dreißig Jahren heiraten. Konzentriert verfolgte er diese Ziele, gewann nationale Titel und begann ein Studium der Medizin.

Doch dann – Beisser war gerade 25 Jahre alt – erkrankte er an Polio und blieb fast vollständig gelähmt. Diese Veränderung kam buchstäblich über Nacht und war unumkehrbar. Der Drang, seine Lebensziele zu erreichen, war jedoch nicht über Nacht verschwunden; er war noch da, nur der Weg zu seinen Zielen war ihm plötzlich abgeschnitten.

Arnold Beisser litt. Er war verzweifelt, fühlte sich zerbrochen, sein Lebensplan war zerstört. Er lebte im Kampf gegen sich selbst.

Hingabe an das gegenwärtige Sein

Doch inmitten der Verzweiflung regte sich auch ein forschender Geist, der ihm erlaubte, sich selbst – wie von außen – in seiner Lage zu betrachten. Er sah, dass er seine Ziele mit der gleichen Beharrlichkeit festhielt, mit der er sie bisher verfolgt hatte. Er war fixiert, und Beisser erkannte, daß diese Fixierung sein Leid erzeugte. Und indem er festhielt, war jede weitere Entwicklung blockiert.

Seine einstmals erfolgsversprechende Beharrlichkeit hatte ihn in eine Sackgasse geführt, war zur leidvollen Verbissenheit geworden.

„Gegenüber einem pluralistischen, vielseitigen, veränderlichen System ist der Mensch auf die eigenen Möglichkeiten der Stabilisierung angewiesen. Er muß dies auf eine Art tun, die es ihm erlaubt, sich dynamisch und flexibel im Fluß der Zeit zu bewegen und dabei zugleich die Orientierung zu behalten.“

Das schrieb Beisser 1970 in seinem berühmt gewordenen Essay „Paradoxe Theorie der Veränderung“. Menschen sind Veränderungsimpulsen ausgesetzt. Als Teil sozialer Systeme, die selbst in Bewegung sind, müssen sie ebenso dynamisch und flexibel darauf reagieren. Und:

„Das ist nicht mehr mit Ideologien möglich, die obsolet werden, sondern nur mit einer Theorie der Veränderung, sei sie nun explizit oder implizit.“

Das Festhalten an konkreten Zielen wird schnell zur Sackgasse, wenn sich Umwelten verändern und ein bisher sinnvolles Ziel plötzlich sinnlos geworden ist. Vielmehr sollten Menschen eine Kompetenz in Veränderung an sich erwerben, also verstehen, wie Veränderung geschieht.

Arnold Beisser gelangte an einen Punkt, an dem sein Widerstand zerbrach. Die Energie war verbraucht, er fiel in einen Zustand, den man mit Hingabe beschreiben kann: mit der Hingabe an das, was ist. Er hörte auf, nach etwas zu streben, sondern akzeptierte seinen gegenwärtigen Zustand.

Ab diesem Moment begann eine neue Entwicklung. Arnold Beisser erlebte, wie Veränderungen geschehen, nämlich „nicht aus dem Versuch, seine Veränderung zu erzwingen, sondern sich voll und ganz auf das gegenwärtige Sein einzulassen.“

Dieses Einlassen auf das gegenwärtige Sein ist Hingabe, völlige Akzeptanz – und der Mut, diesem Sein nicht mehr auszuweichen. Erst dann, so die Erkenntnis von Beisser, kann ein Mensch das werden, was er schon ist. In ihm wird ein neuer Weg sichtbar, der nicht kognitiv geplant oder erschlossen wird, sondern der aus ihm heraus entsteht.

Die fünf Phasen der Veränderung

Wenn der Entwicklungsprozess eines Menschen gestört oder blockiert ist, gerät dieser in eine Stagnation. Das Leben wird mühsam, später – in der Phase der Polarisation – entstehen Dilemmata, aus denen der Klient nicht mehr herausfindet. Bleibt dieser Zustand weiterhin ungelöst, dann entsteht Diffusion: die Lebensenergie dieses Menschen treibt in alle Richtungen, verliert jedoch jegliches Ziel, bekannte Strukturen lösen sich auf. Beisser mit seiner akuten Krise war in dieser Phase angekommen.

Der Durchbruch erfolgte in dem Augenblick des Engpasses (diesen Begriff fügte Fritz Perls der humanistischen Psychologie hinzu), in der Konfrontation mit dem gegenwärtigen Sein. Der Engpass ist der Moment, in dem ein Mensch mutig ‚seinem gegenwärtigen Sein‘ ins Auge blickt und jegliches Ausweichen (durch Aktionismus oder Verharren) aufgibt.

Meist dauert dieser Moment nur kurz, ein paar Minuten, doch bedeutet er einen Wendepunkt. Die darauf folgende Phase nennt Perls „Expansion“, und das erfuhr auch Beisser: als er das Sein akzeptieren konnte, entstand sein neuer Weg.

In Erinnerung ist uns Beisser heute nicht als Tennisprofi, sondern als Professor für Psychiatrie, als Lehrer und Forscher und als jemand, der – einem Weisen gleich – nicht nur Erkenntnisse, sondern Einsichten in das Wesen von Veränderung gewonnen hat.

Was bedeutet seine Einsicht für uns? Sie macht Mut, Veränderungsimpulsen nicht mehr mit Aktionismus oder Verharren zu begegnen, sondern ‚in den Fluss zu steigen‘, also dynamisch und flexibel eine individuelle Antwort auf den Veränderungsimpuls zu finden. Sie bedeutet, auch bereit zu sein, alte Pläne und Ziele aufzugeben und einen neuen Weg in sich selbst zu finden. Sie fordert uns auf, aus erlernten Mustern oder Reiz-Reaktions-Schemata auszusteigen und innezuhalten. Sie bedeutet aber auch, dass evolutionäre Veränderung möglich ist.

Beisser war ein Visionär, indem er schreibt:

„Ich glaube, daß die hier umrissene Veränderungstheorie auch auf soziale Systeme angewendet werden kann und daß geordnete Veränderung in sozialen Systemen sich in Richtung auf Integration und Ganzheitlichkeit bewegt. Ich glaube weiterhin, daß Menschen, die sich für soziale Veränderung einsetzen, mit und in einer Organisation arbeiten müssen, damit diese sich im Einklang mit dem sich wandelnden dynamischen Gleichgewicht innerhalb und außerhalb der Organisation verändern kann.“

Wenn heute überall von Veränderung, Transformation oder Disruption gesprochen wird, dann bietet uns Beisser einen integrierenden und evolutionären Weg an. Seine Einsichten, basierend auf den Strategien der Gestaltpsychologie „lassen sich nach meiner Meinung auf die Entwicklung von Organisationen und auf andere Veränderungsprozesse anwenden, die mit demokratischen politischen Strukturen zu vereinbaren sind.“

Dieser Artikel wurde bereits auf michaelpohl360 gepostet

Mehr lesen:

The Paradoxical Theorie of Change (Beisser, 1970)

„Warum brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter“, (Beisser/Bock, 1997)