Macht, Empathie und die Spiegelneurone
Wer den emotionalen Zustand anderer verstehen will, nutzt einen biochemischen Effekt, den Rizzolatti und Sinigagila bereits 2008 entdeckt haben, nämlich die Spiegelneuronen. Diese sorgen dafür, dass dieselben biomechanischen Mechanismen beim Beobachten von Emotionen (Ekel, Schmerz etc.) ausgelöst werden wie beim eigenen Erleben. Diese sogenannte „motorische Resonanz“ ist wichtig, damit wir auf andere eingehen können und empathisch mit den Gefühlen anderer umgehen können. Somit ist das wirkliche „Verstehen“ der Emotion anderer Personen ein direkt kodierter Mechanismus, der weder Ursache von Folge bestimmter Reize ist.
Empathie wird also durch den beschriebenen Mechanismus ermöglicht. Es gibt jedoch auch Faktoren, die die Fähigkeit zur Empathie einschränken. So gibt es Menschen, deren Fähigkeit zur Empathie gestört ist, wie z.B. bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen. Ein verbreitetes Krankheitsbild ist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS), deren Hauptsymptome Großartigkeit, ein durchgehendes Bedürfnis nach Bewunderung und ein Mangel an Einfühlungsvermögen sind. Daneben leiden diese Menschen (und meist noch viel mehr deren Mitmenschen) an einem übertriebenen Selbstwertgefühl. In dem Artikel „Das narzisstische Dilemma im Unternehmen“ wurde das bereits thematisiert.
Aber auch Menschen, die unter Autismus-Spektrumserkrankungen leiden, wird oft zugeschreiben, weniger empathisch zu sein. Dabei ist bei Autisten nicht etwa das Mitgefühl eingeschränkt, sondern lediglich die Fähigkeit, Gefühle anderer richtig wahrzunehmen. Somit ist also lediglich die kognitive, nicht jedoch die affektive Empathie eingeschränkt.
Jedoch scheint es im Unternehmenskontext viel weniger um die normalen menschlichen Fähigkeiten im Bereich der Empathie zu gehen. Manager sollen rational handeln, sollen sachbezogene Entscheidungen treffen und auf Basis von Zahlen, Daten und Fakten agieren. Wie sieht es da mit der Wahrnehmung von Gefühlen aus? Welche Faktoren wirken verstärkend und welche hemmend auf die Empathie?
Macht und Empathie
Eine Rahmenbedingung im Unternehmenskontext spielt ohne Zweifel eine wesentliche Rolle: Macht. Wer Dinge bewegen will (und das sollen Manager ja) braucht zuallererst genau das! Ohne Macht ist man eben machtlos (sic!). Macht ist die „Befugnis, über etwas oder jemanden zu bestimmen“. Wer über Ressourcen in der Organisation bestimmt, kann Dinge bewegen. So gibt es den Begriff der Verfügungsmacht, der dem Inhaber der Macht das Recht gibt, über Gegenstände Verfügungen treffen zu können. Im Unternehmen hat somit automatisch der Leiter einer Abteilung die Verfügungsmacht über die ihm anvertrauten Ressourcen, also die menschlichen und sächlichen Ressourcen. Wer also z.B. über Budgets verfügt, hat Macht! Genauso verhält es sich natürlich mit menschlichen Ressourcen.
Macht verändert, wie wir uns verhalten – nicht immer und nur zum negativen. So hat z.B. Ian Robertson vom Trinity College herausgefunden, dass uns Macht und Erfolg fokussierter, klüger, selbstbewusster und aggressiver macht. Der Effekt kann wie eine Droge sein und kann uns deshalb auch genauso abhängig machen.
Hier sind wir schon bei einer der ersten negativen Wirkungen von Macht: Die Abhängigkeit davon, denn Macht kann süchtig danach machen. Erfolg und Macht sorgt für erhöhte Testosteronausschüttungen und führt z.B. dazu, dass wir riskanter handeln.
Macht scheint jedoch auch zu verändern, wie empathisch wir uns verhalten, also in welchem Maße wir die Gefühle anderer wahrnehmen („mitfühlen“) – letztlich eine wichtige Voraussetzung für soziales Verhalten. In dem Buch „The Power Paradox“ von Dacher Keltner wird über ein Experiment berichtet, in dem aus einer Gruppe von drei Personen in einer Interviewsituation eine zufällige als Führungsperson ausgewählt wird. Diese soll in einer Schreibaufgabe später die anderen Teilnehmer beurteilen. Während der Aufgabe wird dann ein Teller mit vier Cookies hereingebracht und jede Testperson nimmt auch genau einen davon vom Teller und lassen den vierten Cookie übrig, denn keiner will im ersten Moment als unsozial oder gierig erscheinen. Aber irgendwann taucht das Cookie Monster auf und es ist mit sehr hoher Signifikanz die zufällig ausgewählte Führungsperson, also die Person, die sich aufgrund der machtvollen Position im Recht sieht, den letzten Cookie zu nehmen.
Macht und Missbrauch: Dunkle Empathie oder Die Dunkle Triade
Ein relativ neues Phänomen im Zusammenhang mit Empathie ist das der „dunklen Empathie“. Damit ist ein Verhaltensmuster gemeint, das eine Person zeigt, die Empathie auf kognitiver Ebene zum eigenen Vorteil nutzt. Dunkle Empathen können die Situation einer anderen Person erkennen, ohne mit ihr mitzufühlen. Grundsätzlich gibt es drei Formen von Empathie:
Kognitive Empathie
Die Fähigkeit, die emotionalen Perspektiven und Gedanken einer anderen Person zu erfassen, ohne emotional eingebunden zu sein.
Emotionale Empathie
Die Emotionen einer anderen Person mitzufühlen, als ob es die eigenen wären (dabei helfen die Spiegelneuronen, wie oben beschrieben)
Mitfühlende Empathie
Eine Kombination von kognitiver und emotionaler Empathie.
Sehr häufig tritt die „gebrochene Empathie“ zusammen mit einem weiteren Phänomen auf, das als die „Dunkle Triade“ beschrieben wird, nämlich die Kombination aus Narzissmus, Psychopathie (APS, Antisoziale Persönlichkeitsstörung) und Machiavellismus. Interessanterweise kommen diese Störungen relativ selten in der Bevölkerung vor (nur ca. 1-3 % leiden an APS), jedoch relativ häufig im Regelvollzug und – in höheren Führungspositionen! Laut Robert D. Hare sind sie in höheren Hierarchiestufen überrepräsentiert, andere Schätzungen gehen davon aus, dass sie etwa sechsmal häufiger in Führungspositionen zu finden sind. (Robert D. Hare: „Sie rauben keine Bank aus, sie werden Bankvorstand“).
Hier ist nun der kritische Punkt: Wie kommen diese Menschen überhaupt an die Macht? Es scheint gerade in großen, sehr hierarchisch geprägten Systemen diesen Menschen leicht zu fallen, einflussreiche Positionen zu erreichen und an die Hebel der Macht zu kommen. Diese Systeme tendieren offenbar dazu, Menschen mit einer gewissen Neigung zur Dunklen Triade auszuwählen. Personalverantwortliche suchen nach psychopathischen oder narzisstischen Verhaltensweisen wie Dominanz, Manipulation, übertriebener Selbstliebe oder erhöhter Risikobereitschaft und verwechseln sie mit Führungsstärke. Zudem scheint es auch ein stark männlich geprägtes Phänomen zu sein, denn insbesondere bei Männern führen erhöhte Psychopathiewerte dazu, Führungspositionen zu übernehmen, bei Frauen, dagegen nicht.
Doch warum diskutieren wir dies im Zusammenhang mit New Leadership oder Transformation? Weil wir überzeugt sind, dass unsere heutige Welt neue Konzepte von Führung jenseits der traditionellen Machtsysteme benötigt. In komplexen Situationen brauchen wir intelligente, selbststeuernde Organisationssysteme. Die Organisationsforschung zeigt sehr deutlich, dass agile Systeme in Situationen von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität überlegen sind. Es scheint also hier hilfreich zu sein, die Psychopathen aus der Führung fernzuhalten, also Anreizsysteme für und in der Führung zu schaffen, die eben nicht so attraktiv für die Dunkle Triade ist.
Lösungsansätze und Empfehlungen gegen Machtmissbrauch:
Aus unserer Sicht sind folgende Ansätze wichtig:
Ansatz 1: Laterale Führung, Macht auf Basis „neuer Autorität“
Ein vielversprechendes Konzept in der Organisationsentwicklung ist das der Lateralen Führung. Lateral bedeutet dabei „zur Seite hin“, also sehr stark auf Augenhöhe. Laterale Führung basiert nicht auf formaler Macht (die gibt es dort eigentlich nicht), sondern auf dem Commitment zwischen Führungsperson und geführter Person. Die Autorität zur Führung wird von der geführten Person gegeben, weil Vertrauen in die Person und Glaube an die Sache vorhanden ist. Sie ist situativ bedingt und kann jederzeit wieder entzogen werden. Sie basiert also weit weniger auf der in Hierarchien üblichen Positionsmacht und ist deshalb wesentlich weniger anfällig für die Korrumpierungen der Macht. Die Strukturen der Organisation müssen also so beschaffen sein, dass sie zu viel Anhäufung von Positionsmacht verhindern und Frühindikatoren den Machtmissbrauch wirksam anzeigen.
Ansatz 2: Persönlichkeitsbildung der Mächtigen („Leading Yourself“)
Um den Verlockungen der Macht zu entgehen, ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion entscheidend. Die Befähigung zur Führung anderer entsteht nur auf Basis der Fähigkeit, sich selbst zu führen. Gerade die Konzepte der emotionalen Intelligenz (Daniel Goleman) basieren auf der Fähigkeit zur Selbststeuerung. Wer seine eigenen Emotionen nicht im Griff hat, kann die Gefühle anderer nicht wahrnehmen und schon gar nicht damit umgehen. Neben der Ausbildung von Führungskompetenzen ist also beim Training des Führungsnachwuchses wesentlich auf die Ausbildung emotionaler Intelligenz zu achten. In unseren Führungstrainings (basierend auf unserem Konzept des New Leadership) heißt deshalb ein wichtiger Baustein „Leading Yourself“.
Ansatz 3: Auswahl der Führungskräfte
Doch nicht nur die Ausbildung des Führungsnachwuchses, sondern insbesondere auch die Auswahl der „richtigen“ Persönlichkeiten spielt eine wesentliche Rolle für die Zukunft der Organisation. Dabei ist auch zu beachten, dass viele junge Menschen schon gar keine Lust mehr haben auf die alten Führungskonzepte. Wenn schon führen, dann aber nicht mehr so, wie man das von den Eltern kennt, die sich über viele Jahre in den Mühlen der großen Organisationen nach oben gearbeitet haben und dann mit 45 ihren Burnout haben. In manchen Organisationen gibt es zwischenzeitlich ein größeres Bewusstsein über die möglichen Schäden von toxischen Mitarbeitern und insbesondere Chefs. Spannend ist die Forschung von Robert I. Sutton zu „Assholes“ in Organisationen, der Idee einer „No Asshole Rule“ und der Betrachtung von „Total Cost of Assholes“. Wer kranke Führungssysteme verhindern will, ist gut beraten, wirksame Regeln zur Vermeidung von Assholes in Führungspositionen aufzustellen.
Ansatz 4: Organisations- und Kulturentwicklung
Neben der individuellen und der organisationalen gibt es noch die kulturelle Dimension, die in der Vermeidung von Machtdysfunktionalitäten eine wichtige Rolle spielt. Über Jahre und Jahrzehnte eintrainierte Verhaltensmuster setzen sich hartnäckig fort – auch längst nachdem die eigentliche Ursache des Verhaltens beseitigt ist. Es geht also immer wieder darum, das individuelle und kollektive Verhalten zu reflektieren, sichtbar zu machen und zu hinterfragen. Die agilen Methoden bieten hier mit Strukturen wie der Retrospektive gute Ansatzpunkte, Fehlentwicklungen zu vermeiden. Konventionelle Machtsysteme in Organisationen sind jedoch nicht nur ein Problem, sondern zugleich auch eine Chance in der Organisationstransformation. Denn wenn die Kräfte der Macht mit der Verfügung über Ressourcen gebündelt werden können, dann kann die Transformation auch schnell Fahrt aufnehmen.
Fazit zu Macht
Macht ist ein Konstrukt, das in Organisationen wirkt und auch viel Gutes bewirken kann. Sie verändert jedoch auch unsere Empathie und kann abhängig machen. Bestimmte Persönlichkeitsstörungen werden in ausgeprägt hierarchischen Systemen bei der Führungskräfteauswahl bevorzugt und neigen zu Machtmissbrauch. Zur Vermeidung von Dysfunktionalitäten und zur Förderung der organisationalen Transformation braucht es stärker lateral ausgerichtete Führungssysteme, eine sorgfältige Auswahl der Führungskräfte, Persönlichkeitsbildung bei der Führungskräfteausbildung und eine ausgeprägte Kulturentwicklung.
Autor: Prof. Frank Widmayer
Prinzipien, Kompetenzen und Werkzeuge für moderne Führung.
Mehr lesen:
Obhi, Sukhvinder S. (2014). Power Changes How the Brain Responds to Others. Vol. 143, No. 2, S. 755-762.
Rizzolatti, G., & Sinigaglia, C. (2016). The mirror mechanism: a basic principle of brain function. Nature Reviews Neuroscience, S. 757-765.
Rizzolatti, G., & Sinigaglia, C. (2008). Empathie und Spiegelneurone. Suhrkamp Verlag.
Robertson, I. (2012). The Winner Effect: How Power Affects Your Brain. Bloomsbury.
Sutton, R. I. (2010). The No Asshole Rule: Building a Civilized Workplace and Surviving One That Isn’t. Business Plus.
Sutton, R. I. (2017). Good Boss, Bad Boss: How to Be the Best… and Learn from the Worst. Piatkus.
Sutton, R. I. (2018). The Asshole Survival Guide: How to Deal with People Who Treat You Like Dirt. Penguin.
Widmayer, F. (2016). Das narzisstische Dilemma im Unternehmen. LinkedIn (https://www.linkedin.com/pulse/das-narzisstische-dilemma-im-unternehmen-prof-frank-widmayer/).